Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Eröffnungssitzung der 68. Weltgesundheitsversammlung am 18. Mai 2015
Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Frau Generaldirektorin,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,
es gibt eine alte Weisheit aus vorchristlicher Zeit, die besagt: „Bevor du redest, unterrichte dich. Bevor du krank wirst, sorge für Gesundheit.“ Manch mahnende Worte haben auch über Jahrtausende hinweg Bestand. Es gibt ein Menschenrecht auf Gesundheit. Wir alle arbeiten daran – auch in diesem September –, das Recht auf Gesundheit als eines der nachhaltigen Entwicklungsziele neu in der UN zu verankern. Deshalb hat die deutsche G7-Präsidentschaft auch einen Schwerpunkt auf das Thema Gesundheit gelegt, das wir im Laufe unserer Präsidentschaft auch weiter bearbeiten werden.
Warum tun wir das? Erstens, weil das Menschenrecht auf Gesundheit nur dann durchgesetzt werden kann, wenn in allen Ländern der Erde ein nachhaltiges Gesundheitssystem besteht oder entsteht, und zweitens, weil wir spüren, dass das globale Zusammenwachsen uns alle mehr voneinander abhängig macht, dass die Gesundheit des einen auch die Gesundheit des anderen ist. Das heißt, die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems eines Landes entscheidet ebenso über die Gesundheitssituation anderer Länder wie auch über Sicherheit und Stabilität. Das heißt, nationale Eigenverantwortung und globale Mitverantwortung sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Deutschland hat drei Gesundheitsthemen auf die Tagesordnung gesetzt. Erstens – aus aktuellem Anlass –: Welche Lehren wollen wir aus der Ebola-Katastrophe ziehen? Zweitens: Wie können wir die vernachlässigten und armutsbedingten Tropenkrankheiten besser bekämpfen? Drittens – das ist etwas, das Industrie- und Entwicklungsländer gleichermaßen angeht –: Was können wir gegen zunehmende Antibiotikaresistenzen machen?
Alle drei Themen haben etwas Verbindendes, nämlich: Sie können nur dann erfolgreich bearbeitet werden, wenn alle Länder dazu befähigt werden, die Normen für Gesundheitssysteme einzuhalten. Diese internationalen Gesundheitsvorschriften, die „International Health Regulations“, sind von der WHO, der Weltgesundheitsorganisation, entwickelt worden. Der Umsetzungsprozess muss für alle verbindlich werden. Es handelt sich hierbei um keine Empfehlungen, vielmehr sind diese Richtlinien so gut, dass sie umgesetzt werden müssen.
Warum beschäftigen sich nun die G7-Länder mit dem, was international schon vereinbart ist? Wir beschäftigen uns damit, weil wir wirtschaftlich stark sind, weil wir als G7-Staaten eine hohe wissenschaftliche Expertise haben und weil wir gemeinsame Werte haben, die besagen, dass die Würde jedes Menschen unteilbar ist, was sich deshalb nicht auf die G7-Länder beschränken darf. Ich freue mich daher, dass ich hier heute – zusammen mit dem deutschen Gesundheitsminister – Gast bei der Weltgesundheitsorganisation sein darf, um darüber zu berichten, was wir vorhaben.
Die Ebola-Katastrophe in Westafrika hat uns schmerzlich vor Augen geführt, wie dringend der internationale Handlungsbedarf in Krisensituationen ist. 26.000 Menschen sind am Virus erkrankt, es sind über 11.000 Todesopfer zu beklagen. Die Länder, die davon betroffen sind, sind in hoher Weise destabilisiert. Es gibt erste Erfolge – Liberia ist ebolafrei. Wir hoffen, das gilt bald auch für die beiden anderen Länder. Aber gewonnen ist der Kampf erst, wenn es keine neuen Erkrankungen gibt. Eigentlich ist er aber erst dann wirklich gewonnen, wenn wir für die nächste Krise gerüstet sind – das heißt, wenn wir die Lehren aus dieser Krise gezogen haben. Eine Lehre, die wir alle ziehen müssen, ist: Wir hätten früher reagieren müssen. Deshalb muss gefragt werden: Was kann gemacht werden?
Wir brauchen eine Art globalen Katastrophenschutzplan. Hierbei spielt die Weltgesundheitsorganisation eine zentrale Rolle. Deshalb stellt sich die Frage: Was erwarten wir von der Weltgesundheitsorganisation, was muss sie leisten und was müssen die Mitgliedsländer, die in dieser Organisation arbeiten, einbringen?
Aus meiner Sicht ist die Weltgesundheitsorganisation die einzige internationale Organisation, die universelle politische Legitimation in globalen Gesundheitsfragen genießt. Deshalb geht es darum, ihre Strukturen effizienter zu gestalten. Sicherlich ist es ein Vorteil der Weltgesundheitsorganisation, dass sie 150 Länderbüros, sechs Regionalbüros und eine Zentrale hat – die dezentrale Verankerung ist wichtig. Aber seien wir ehrlich: Dezentralität führt oft auch zu Entscheidungs- und Handlungsunfähigkeit. Deshalb muss der Vorteil der dezentralen Organisation so genutzt werden, dass die drei Ebenen, auf denen die Weltgesundheitsorganisation arbeitet, mit klaren Weisungs- und Handlungsstrukturen verknüpft werden, sodass man zum Schluss weiß, wer wann was wem zu sagen, zu melden und zu tun hat. Das ist sicherlich einfacher gesagt als getan. Aber ich glaube, dass es gerade in der Stunde, in der wir Lehren ziehen wollen, wichtig ist, dass jeder ein Stück weit über seinen Schatten springt, diese Aufgabe annimmt und wir gemeinsam Besseres erreichen.
Trotz der zentralen gesundheitspolitischen Legitimation der Weltgesundheitsorganisation kann sie für die Ausarbeitung eines Katastrophenschutzplans von globaler Ausrichtung nicht die einzige Organisation sein. Das heißt, wir müssen ein gutes Zusammenspiel der WHO, des UN-Systems insgesamt und der Weltbank hinbekommen. Um diese Verknüpfungen unter die Lupe zu nehmen, haben die Ministerpräsidentin Norwegens, der Präsident Ghanas und ich den Generalsekretär der Vereinten Nationen gebeten, ein hochrangiges Panel einzusetzen. Dieses Panel hat inzwischen unter der Leitung von Staatspräsident Kikwete aus Tansania seine Arbeit aufgenommen und soll bis Ende des Jahres einen Bericht vorlegen, der beschreibt, was wir hinsichtlich der internationalen Organisationen lernen müssen, welche Organisation was beitragen kann und wie wir in Zukunft auf Krankheitskatastrophen, ähnlich wie bei Naturkatastrophen, besser vorbereitet sein können. Ich bin überzeugt: Wenn wir schneller reagieren, wenn wir schneller handeln, wenn wir klare Handlungsstränge haben, dann wird es uns auch gelingen, eine Krise wie die Ebola-Epidemie beim nächsten Mal besser zu bekämpfen.
Eines dürfen wir bei aller internationalen Kooperation nicht aus den Augen verlieren: Ausgangspunkt muss sein, dass jedes Land ein möglichst nachhaltiges eigenes Gesundheitssystem entwickelt oder entwickeln kann. Der Aufbau von Gesundheitssystemen ist eine zentrale Aufgabe. Deutschland stellt sich dieser Aufgabe: Wir werden den betroffenen Ländern in diesem und im nächsten Jahr 200 Millionen Euro zur Verfügung stellen – davon 70 Millionen Euro allein in Westafrika, um den Aufbau nachhaltiger Strukturen im Sinne von Hilfe zur Selbsthilfe voranzubringen.
Meine Damen und Herren, ein zweites Thema auf unserer G7-Agenda sind vernachlässigte und armutsbedingte Tropenkrankheiten, die etwas damit zu tun haben, dass viele Länder eben zu arm sind, um ein eigenes Gesundheitssystem aufbauen zu können, weshalb wir ihnen dabei helfen müssen. Bei den vernachlässigten Tropenkrankheiten darf man das Wort „vernachlässigt“ eigentlich nicht wörtlich verstehen, denn 1,4 Milliarden Menschen sind davon betroffen. Interessant ist, dass zumeist mit einem relativ geringen materiellen Aufwand das Leiden von Hunderten von Millionen Menschen bekämpft werden könnte. Hierfür brauchen wir erstens langfristig den Aufbau der Gesundheitssysteme, zweitens natürlich die Ergebnisse der pharmazeutischen Industrie und drittens die Logistik der Verteilung. Deshalb ist es sehr wichtig, mit den betroffenen Ländern eng zusammenzuarbeiten. Zum Beispiel haben wir auf dem afrikanischen Kontinent sehr unterschiedliche Ergebnisse, was logistische Fähigkeiten anbelangt. Deshalb geht es nicht nur um den Aufbau von Gesundheitssystemen, sondern auch um den Aufbau vernünftiger Verwaltungsstrukturen.
Das dritte Thema, das wir auf deutscher Seite in der G7-Präsidentschaft bearbeiten wollen, ist das Thema Antibiotikaresistenzen. Hierzu haben uns die Nationalen Akademien der Wissenschaften Hinweise gegeben – wie im Übrigen auch zum Thema vernachlässigte Tropenkrankheiten. Ich glaube, dies ist ein Thema, das von ausschlaggebender Bedeutung für die Menschheit insgesamt ist – und zwar sowohl in den entwickelten als auch in den weniger entwickelten Ländern. Es geht darum, dass wir die Wirksamkeit existierender Antibiotika sichern und ihren Einsatz ausschließlich auf medizinisch notwendige Anwendungen beschränken – nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Tieren. Hierzu wollen wir auf dem G7-Treffen gerade auch für Industrieländer möglichst strenge Maßstäbe vereinbaren.
Restriktiv müssen die Wirkstoffe deshalb eingesetzt werden, weil es, wenn Krankheitserreger einmal resistent gegen sie sind – anders als zum Beispiel bei den vernachlässigten Tropenkrankheiten –, viel schwieriger ist, neue Wirkstoffe zu erforschen. Die pharmazeutische Industrie ist ein wichtiger Partner im Kampf gegen Krankheiten, aber sie kann auch nichts vollbringen, was durch Forschung nicht geschafft werden kann. Ich habe mir berichten lassen, wie schwierig es ist, neue Wirkstoffe für Antibiotika, die die alten ersetzen, zu erforschen. Deshalb müssen wir sorgsam damit umgehen, um hierbei voranzukommen, und einen Ansatz haben, der heißt: „Eine Gesundheit“-Ansatz für Mensch und Tier.
Ich freue mich sehr, dass sich die Weltgesundheitsversammlung vorgenommen hat, erstmals einen globalen Aktionsplan gegen antimikrobielle Resistenzen zu entwickeln. Jedes Land sollte einen solchen Plan haben. Deutschland hat vor wenigen Tagen im Kabinett einen solchen Plan beschlossen. Diesbezüglich wird in der Humanmedizin und der Veterinärmedizin eng zusammengearbeitet.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Weltgesundheitsorganisation danken, genauso wie den Vertretern der anderen UN-Organisationen, den Vertretern der Nichtregierungsorganisationen und den Vertretern der Stiftungen. Gerade auch mit Blick auf die Ebola-Krise wird deutlich, was Nichtregierungsorganisationen und Helfer vor Ort leisten. Ich will hier das Internationale Rote Kreuz und den Roten Halbmond erwähnen, ich will Ärzte ohne Grenzen erwähnen – aber nur beispielhaft für die vielen, vielen anderen, die auch gemeinsam mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der internationalen Organisationen unermüdlichen Einsatz zeigen.
Deshalb habe ich zum Schluss eine Bitte – wir werden auch auf dem G7-Gipfel dafür werben –: Alle sind wichtig im Kampf für das Menschenrecht auf Gesundheit. Die Strukturen haben sich über die letzten Jahre verändert. Als die Weltgesundheitsorganisation gegründet wurde, gab es diese eine Organisation. Inzwischen gibt es Stiftungen und sehr gute Nichtregierungsorganisationen. Jeder, der für das gleiche Ziel kämpft, ist gleichermaßen wichtig. Lassen Sie uns ein gutes Miteinander finden und lassen Sie uns nicht gegeneinander arbeiten. Die Aufgabe ist so groß und die Anstrengungen sind so wichtig, dass jede helfende Hand gebraucht wird. Deshalb zum Schluss noch einmal ein herzliches Dankeschön für Ihre Arbeit im Sinne der Menschen. Deutschland wird in seiner G7-Präsidentschaft zusammen mit den anderen G7-Partnern versuchen, Ihre Arbeit zu unterstützen und voranzubringen.
Herzlichen Dank.